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31.08.2020

Virtuelle Inbetriebnahmen ganzer Fabriken und neue Business Cases dank Plattformbibliothek zur Co-Simulation

Für den Maschinen- und Anlagenbau ist eine Simulationsplattform ein sehr performantes Werkzeug, um mit digitalen Zwillingen kostengünstig ganze Anlagen einschließlich des Steuerungssystems (SPS) zu…

Virtuelle Inbetriebnahmen ganzer Fabriken und neue Business Cases dank Plattformbibliothek zur Co-Simulation

Für den Maschinen- und Anlagenbau ist eine Simulationsplattform ein sehr performantes Werkzeug, um mit digitalen Zwillingen kostengünstig ganze Anlagen einschließlich des Steuerungssystems (SPS) zu konfigurieren sowie virtuell auszutesten und in Betrieb zu nehmen. Für die Unternehmen ergeben sich aber darüber hinaus zusätzliche Erlösquellen, indem sie ihren Kunden neben den realen auch die virtuellen Komponenten, Anlagen und Simulationsmodelle anbieten oder sie selbst für neue Services nutzen.

 

Von der Software-In-the Loop-Simulation …

Die steigende Komplexität von Maschinen und Anlagen führte in den vergangenen Jahren immer mehr dazu, dass man die Steuerungssoftware erst an der realen Anlage – also während der Inbetriebnahme – abschließend programmiert hat. Mit der Entwicklung digitaler Zwillinge und der Software-in-the-Loop-Simulation (SILS) ist es gelungen, diesen Prozess wieder in die Engineering-Phase zu verschieben: Die virtuellen Komponenten, Baugruppen und Steuerungen eines mechatronischen Systems bilden dabei ihre realen Vorbilder eins-zu-eins ab, von den Parametern über die Schnittstellen bis hin zum Verhalten. Besonders zu Beginn des Engineerings sind hochauflösende Simulationsmodelle für einzelne Prozesse vorteilhaft, um kostengünstig und unkompliziert verschiedene Konstruktionen oder Steuerprozesse durchzuspielen. Die Hardware-in-the-Loop-Simulation (HILS) hingegen dient dem Testen der realen Steuerungshardware: Sie ist über den industriellen Echtzeit-Feldbus mit dem digitalen Zwilling verbunden, der das Verhalten der Feldbuskomponenten so simuliert, dass es keinen Unterschied zum Verhalten realer Feldbuskomponenten gibt. Praxiserfahrungen bestätigen, dass diese digitalen Testsimulationen die Entwicklungsprozesse und Inbetriebnahmen signifikant beschleunigen, zur Qualitätsverbesserung beitragen und Kosten senken.

 

… zur Simulationsplattform

Geht es nun aber darum, eine gesamte Fabrik virtuell in Betrieb zu nehmen, reicht es nicht aus, jeden Einzelprozess zu simulieren, sondern man muss auch ihr komplexes Zusammenspiel 2 betrachten. Es gilt, alle Interaktionen zwischen den mechatronischen Prozessen, der Steuerung und dem Bedienverhalten zu simulieren. Dafür muss man die verschiedenen Simulationsmodelle aus den unterschiedlichen Disziplinen – Mechanik, Elektrik und Softwaretechnik – zu einem Gesamtmodell zusammenführen. Man spricht auch von einer gekoppelten oder Multidomain-Simulation. Die Herausforderung liegt nicht nur darin, dass diese Simulation in Echtzeit erfolgen muss, sondern dass zur Abbildung physikalischer Effekte zudem eine größere Modelltiefe der digitalen Zwillinge benötigt wird als bisher, das heißt, das Modell wird sehr viel komplexer. Deshalb ist es zwingend notwendig, die bei der HILS nutzbaren Rechenleistung zu steigern. Die Lösung: Plattform zu Echtzeit-Co-Simulation, deren charakteristische Merkmale Partitionierung, Parallelisierung, Synchronisierung, Datenaustausch und Integrationsschnittstellen für die blogbasierte Modellierung sind.

 

Multicore-Simulation in Echtzeit

Die Echtzeit-Berechnung und Echtzeit-Synchronisation wird durch Modellpartitionierung möglich: Das bausteinbasierte Systemmodell wird in verschiedene Teilmodelle – über Komponentengrenzen hinweg – zerlegt. Das kann automatisiert durch das System oder manuell durch den Anwender erfolgen. Mehrere Rechenkerne arbeiten parallel und ermöglichen es, unterschiedlichste Simulationsdisziplinen miteinander zu koppeln. Dazu gehören die Beschreibung des jeweiligen Prozesses, das Simulieren des Maschinenverhaltens, etwa hinsichtlich Logik, Kinematik und Dynamik sowie die Verhaltenssimulierung industrieller Steuerungskomponenten einschließlich ihrer Sensorik und Aktorik. Die Modellierungsumgebung zeigt dem Anwender auf, wie das Gesamtmodell auf die einzelnen Rechenkerne verteilt ist und gestattet es ihm, Anpassungen und Umkonfigurationen vorzunehmen. Die Plattform ist somit die Basis für funktionale Lösungen, die es erlauben, verschiedene Modelle miteinander zu kombinieren, unabhängig, ob es sich um SILS- oder HILS-Modelle handelt.

 

Plattformbibliothek vereint Wissen vieler Nutzer

Eine Plattform bietet den höchsten Mehrwert, wenn sie über standardisierte Integrationsschnittstellen auch die Einbeziehung von Simulierungen Dritter zulässt. Quasi als Bibliothek für Simulationslösungen – Werkzeuge und Modelle – sollte sie die virtuellen Zwillinge der gängigen Steuerungen, etwa von Siemens oder Kuka, enthalten und es darüber hinaus gestatten, dass der Anwender auch eigene Simulationen und jene von Partnern integriert. Dann ist es Maschinenbauern möglich, die Hard- und Softwarekomponenten einer Anlage durchgängig ohne Systembruch zu simulieren bis hin zur virtuellen Inbetriebnahme ganzer Fabriken. Der Clou: Eine modular aufgebaute Plattformbibliothek wächst kontinuierlich mit und bildet immer mehr Einsatzszenarien ab. Sie bietet dem Anlagen- und Maschinenbauer zudem neue Geschäftsmodelle, mit denen sie direkt zur Wertschöpfung im Unternehmen beitragen. Nachfolgend sind vier Business Opportunities skizziert. 

 

1. Dummy für Schulungszwecke

Es ist bereits gang und gäbe, dass Maschinenbauer den Betreibern der Anlagen den virtuellen Zwilling übereignen, damit diese ihn für die Schulung ihres Personals nutzen können. Die Vorteile liegen auf der Hand: Am Rechner lassen sich kritische Situationen simulieren, die man in der Realität auch zu Übungszwecken aus Sicherheitsgründen, oder weil die Produktion laufen muss, nicht verursachen kann. Mit dem Training in der virtuellen Welt können sich die Bediener allerdings gut auf einen Ernstfall vorbereiten, um dann richtig zu reagieren und die Anlage schnellstmöglich wieder anlaufen zu lassen. Durch die Schulung via Online-Plattform erhöht sich auch die Produktivität der Anlage – können doch die Anlagenfahrer nach der realen Inbetriebnahme der Maschine sofort loslegen, ohne zunächst einen „BedienerCrashkurs“ absolvieren zu müssen und die Anlage dabei zu blockieren.

 

2. Service „Predictive Maintenance“

Anlagen sind regelmäßig zu warten. Zumeist übernimmt das der Maschinenbauer oder ein darauf spezialisierter Dienstleister. Mit einem digitalen Zwilling der Anlage und dem zusätzlichen Einsatz eines Predictive Tools können die Wartungsunternehmen dem Kunden als zusätzlichen Service eine vorausschauende Wartung anbieten. Dabei geht es darum zu erkennen, wenn sich ein Problem gerade beginnt zu entwickeln. Die virtuelle Anlage dient als „Golden Reference“ – weichen die Parameter der realen Anlage davon ab, dann ist gegebenenfalls ein Eingreifen notwendig. Das zugrunde liegende Predictive Analytics-Modell berücksichtigt sowohl die aktuellen Betriebsdaten als auch verfahrenstechnische Zusammenhänge und relevante Einflussfaktoren der Anlagenperipherie. Durch den Vergleich mit historischen Daten, z.B. durch eine integrierte KI-Lösung, kann ermittelt werden, wie sich die Daten höchstwahrscheinlich weiterentwickeln und erlaubt so ein Gegensteuern, bevor der Schadensfall eintritt. Ein ebenfalls auf Predictive Maintenance basierendes Geschäftsmodell besteht darin, dass sich der Dienstleister nicht die Wartungsmaßnahmen, sondern eine garantierte Anlagenverfügbarkeit vergüten lässt. An ihm liegt es dann, die Maschine entsprechend in Stand zu halten.

 

3. Kompass zur besten technischen Lösung

Heute gibt es kaum noch Maschinen von der Stange. Die Regel ist eher die an Kundenwünsche angepasste Einzelanfertigung. Genau hier liegt oft die Schwierigkeit für den Besteller – was ist denn die für ihn optimale Lösung? Der Anlagenbauer kann mit ihm dafür bereits vor der Angebotsphase ein Vor-Projekt durchführen, bei dem sie verschiedene Konfigurationen auf der Simulationsplattform durchspielen. Der Aufwand ist dabei umso geringer, je mehr digitale Komponenten bereits in der Plattformbibliothek vorhanden sind. Es ist zudem zu erwarten, dass der Käufer dann auch diesen Maschinenbauer mit der Realisierung der Anlage beauftragt. 

 

4. Retrofitting digital

Statt neu zu bauen, lohnt es sich in vielen Fällen, vorhandene Anlagen durch den Austausch veralteter Komponenten zu modernisieren oder für ein neues Produkt umzurüsten. Analog zum Engineering einer Neuentwicklung lässt sich der Aufwand dafür deutlich reduzieren, wenn der Betreiber das Retrofitting zunächst virtuell auf der Simulationsplattform vollzieht. Voraussetzung dafür: Sein Anlagenbauer stellt ihm gegen entsprechende Gebühren die digitalen Zwillinge und Simulationsmodelle zur Verfügung.

 

Fazit

Eine offene und multicore-fähige Simulationsplattform ermöglicht Co-Simulationen in Echtzeit. Konstrukteure können so einerseits umfangreiche Testläufe mit unterschiedlichen virtuellen Steuerungen durchführen, um mit relativ geringem Aufwand und in kurzer Zeit das für die jeweilige Anlage optimale Steuerungssystem zu finden. Andererseits lässt sich nun eine Gesamtanlage durchgängig simulieren und damit virtuell in Betrieb nehmen. Die Plattform sollte erweiterbare Simulationsbibliotheken enthalten, die es zudem gestatten, über entsprechende Schnittstellen hochspezialisierte, technologiespezifische Simulationslösungen Dritter zu integrieren. Es zeigt sich zudem, dass eine gemeinsame, mitwachsende OnlinePlattform sehr krisensicher ist. Stichworte dafür sind ortsunabhängiger Zugriff, Redundanz und Wissenstransfer. Den Anlagenbauern bieten sich zudem neue Erlösquellen – durch die Bereitstellung der digitalen Zwillinge, von Simulationsmodellen und Dienstleistungen wie vorausschauender Wartung.

 

Dr. Christian Daniel ist seit 2013 als Business Manager Simulation Technology bei der ISG Industrielle Steuerungstechnik GmbH (www.isg-stuttgart.de) tätig. In seinem Fokus stehen die Kundenberatung und Lösungsfindung für eine nachhaltige Optimierung von Engineering- und Produktionsprozessen, zur signifikanten Kostenreduktion mithilfe von Simulationstechnologie sowie das Konfigurationsmanagement. Seine langjährige Managementerfahrung im Anlagen- und Maschinenbau sowie Erfolge bei der strategischen Weiterentwicklung von Unternehmen gibt er an Entscheidungsträger unterschiedlicher Branchen weiter. Zuvor hatte er für dreizehn Jahre die Technische Leitung bei der Bystronic Lenhardt GmbH inne. Nach seinem Abschluss als Doktor der Ingenieurwissenschaften, Fachgebiet Automatisierungstechnik, der Universität Stuttgart 1995 startete Daniel seine berufliche Laufbahn als Vorsitzender der Geschäftsführung der FISW GmbH und war anschließend als Ressortleiter Technik und leitender Angestellter der C. Haushahn GmbH tätig. 

 

Dr. Christian Scheifele leitet seit 2019 die Forschung und Entwicklung Simulationstechnik der ISG Industrielle Steuerungstechnik GmbH (www.isg-stuttgart.de). Davor war er seit 2016 Gruppenleiter "Virtuelle Methoden in der Produktionstechnik" am Institut Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen der Universität Stuttgart. Bereits seit 2015 arbeitete er auf dem Gebiet der digitalen Fabrik mit deren Modellierungen, Methoden und Tools, um Produktionsprozesse und -anlagen simulations- und softwaregestützt zu entwickeln, engineeren, testen und in Betrieb zu nehmen. Er ist in der Simulierungstechnologie wissenschaftlich führend, wie zahlreiche Veröffentlichungen belegen. Scheifele verfügt über Abschlüsse als Dr.-Ing. und Master of Science der Universität Stuttgart sowie als Master's Thesis der University of Auckland.